Buch wie eine Ballade

Der Songdog Verlag, Hausverlag von FM-Lieblingen wie Brian McNeill, Mick Fitzgerald und Andreas Niedermann, stellt diesmal eine aufregende neue Autorin vor.

Wir schreiben das Jahr 2002, Melvil Given, aufgehender Stern am Himmel der Glasfaserbranche, ist nach einem erfolgreichen Geschäftsabschluss auf dem Rückflug von London nach Chicago. Ein paar Drinks in der Business Lounge, dann noch ein paar im Flugzeugsessel, ehe er den Großteil der acht Flugstunden verschläft, um am nächsten Morgen für neue berufliche Herausforderungen fit zu sein: So hat er sich das vorgestellt. Doch selbst die geräumige Businessclass ist auf einmal viel zu klein, wenn ein anderer Passagier unbedingt ein endloses chinesisches Märchen erzählen will, in denen Brüderchen und Schwesterchen beide ein elendes Ende nehmen. Nach sechs Stunden Flug ist er noch immer nicht fertig, wir ahnen die Qualen, die der arme Melvil empfindet, und ahnen auch: Sehr symbolisch, Melvil, gib acht! Was Melvil natürlich nicht tut, und so haben wir die einzigartige Möglichkeit, ihn bei seinem Weg ins Unglück aus nächster Nähe zu beobachten. Und wie so oft bei fremdem Unglück: Das Beobachten macht gewaltigen Spaß. Melvil verfolgt das grandiose Ziel, eine Zigarette, die bunte und wunderbare Halluzinationen erzeugt zu entwickeln.

Ein riesiger Wald in Kanada muss dran glauben für die Entwicklung des Glimmstengels, der den schönen Namen „Very Dream Gold“ tragen soll, im Unterschied zu den bereits existierenden Typen „Holz Grün“ und „Holz Weiß“, die halluzinationsmäßig noch nicht so recht befriedigen. Und nicht nur der Wald muss dran glauben, sondern auch mindestens ein Zigarettentester, aber das kriegt Melvil nicht so richtig mit, denn seine Freundin verlässt ihn und sein Fernseher zeigt nur noch schwarzweiße Striche, und das auf sechs Geräten in 42 Wiederholungssendungen. Er ahnt natürlich, dass es hier einen Zusammenhang zu „Holz Golden“ und zu seinen Glasfaseraktivitäten gibt, aber ob er den durchschaut, erfahren wir erst ganz am Schluss dieser überschäumenden Satire aus der IT-Welt und einer Zeit, wo die neue Technologie ungeahnte Möglichkeiten zu eröffnen schien.

Möglichkeiten wie aus einem endlosen chinesischen Märchen! Denn, wie es in den 42 Wiederholungssendungen heißt: „Wenn du gepisst hast, musst du die Hosen wieder hochziehen.“ Gabriela Muri: Melvil oder das verfügbare Gedächtnis, Songdog Verlag,  202 S., 20,-- https://www.songdog.ch/songdog-home.html (GH)